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geheim

Ausschnitt aus «geheim» 

Tamara Lardori, Caroline Ruckstuhl, 2018

Wir, vier Frauen, sind hier, unter euch, verwebt auf wundersame Weise – mit euch. Das Schicksal hat uns zusammengeführt und neue Geschichten auf den Weg geschickt. Während wir versuchen Geheimnisse aus der Vergangenheit zu lüften, werden neue geschaffen. Ein Schleier wird über unsere Gedanken gelegt, denn die tiefsten sind nicht immer die, die wir in die Tat umgesetzt haben, es sind die, die wir nicht auszusprechen wagen. Die gemeinen, absurden, fiesen, beschämenden, paranoiden Gedanken. Ich habe euch hier versammelt wie um ein Lagerfeuer. Nicht um alles auszuplaudern, denn was wäre ein Geheimnis, ohne dessen Schweigen? Dennoch, die Geheimnisse drängen uns zu sprechen. Das Warum zu suchen, auch auf Umwegen. Meine lieben Freundinnen, ich spreche hier an eurer Stelle. Ich hoffe ihr mögt mir verzeihen. Es gibt Geheimnisse, die scheinen uns zu fällen, wenn wir es wagen in ihre Nähe zu kommen, es gibt die, die offensichtlich sind und doch nicht gesehen werden, es gibt die, die zu schmerzhaft sind, um sie zu lüften. Wir kennen alle solche Geschichten. Und es gibt die, die wir laut hinausschreien wollen, vielleicht aus Wut, vielleicht aus Bosheit und die uns danach in die Tiefe stürzen. Und sprechen wir auch von den beschämenden, den traurigsten unter den Geheimnissen. Ihr habt mir das Wort erteilt. Nun frage ich euch, ob ich auf meine Weise sprechen darf. Euch eine Stimme zu geben. Entschuldigt mich, erlaubt es mir, euch von der Seite anzufallen, wie ein grausamer Feind. Erlaubt es mir zu lachen, da wo das Lachen schmerzhaft ist, ohne Zynismus, aber mit der Weisheit der Freundschaft. Und schliesslich erlaubt es mir zu Schweigen, denn auch im Verborgenen hat das Geheimnis ein Gesicht.
 
Danke.
 
Ich starte.
 
Es nicht aussprechen. Es denken. Es nicht sagen. Es sagen, indem ich es nicht sage. Es nicht dürfen sagen. Es wegdenken. Es nicht wollen denken. Es nicht wollen, dass andere denken, dass ich es denke. Zu denken, dass es andere denken, dass ich es denke. Es verfluchen, weil es immer denkt. Es töten wollen. Es nie mehr denken wollen. Es schweigen. Und weiter schweigen. Es laut sagen, indem ich schweige. Das Schweigen schweigen wollen. Schweig! Verdammt…
 
Der Mond stand hoch am Himmel und schien grell. Wir, zwei Frauen mit zwei Töchtern, waren total übermüdet.
 
Wir hatten uns aufs Bett geworfen. Es roch nach Mottenkugeln. Wir starrten an die Decke. Dort oben hing ein verstaubtes Segelschiff. Vielleicht hatte es jemand aus einer Flasche befreit. 
 
Sie: Ich wollte es damals jemandem erzählen. Aber irgendwie durfte ich nicht. Ich schämte mich, aber das war mir damals noch nicht klar. Wir waren doch so schön… so erfolgreich… so beliebt… 
 
Es hätte geholfen, wenn ein milder Wind geweht hätte. Wenn der Mond nicht so aufdringlich geschienen hätte, wenn die Wärme nicht von einem verstaubten Radiator gekommen wäre, wenn das hängende Schiff an der Decke grösser gewesen wäre, wenn es echt gewesen wäre und nicht wie eine Erinnerung der Anderen dort oben gehangen wäre. Grundsätzlich hätte es geholfen, wenn das Leben um sich gegriffen hätte, mit Blühen, Gebären, Lachen und was weiss ich…
 
Sie: Hier kann ich nicht bleiben. Es ist widerlich.
 
Ich nickte stumm. 
 
Ich war auf den Spuren der Geschichte meiner Grossmutter. Sie hatte als 20-Jährige die kleine Insel, auf der sie geboren wurde, verlassen. Sie war abgehauen. Wovor, weiss ich nicht so genau, aber ich stellte es mir vor. Und was ich hier wollte, war mir auch nicht so klar. Eigentlich war ich einfach so in diesem Kaff gelandet. Dachte ich zumindest… Die Wohnung im Haus, in dem meine Grossmutter angeblich geboren wurde, hatten wir auf einem Internetportal gefunden.
 
Griechenland
Begonnen hatte, wie so manches, auch das hier mit dem Tod. Schreiend war ich die endlosen Treppen runtergerannt. Und da stand ich plötzlich diesem Jungen gegenüber. Er trug eine Gitarre um den Hals. Die ganze Ferienwoche hatte ich mit ihm geflirtet. Es war meine erste Ferienliebe. Vielleicht hatte er gerade gespielt oder gesungen. Eine Serenata am helllichten Tag oder ein Requiem für das Leben. Aber sonst war alles wie immer. Das Blau des Meeres war so blau wie es sein sollte. Auch das Datum war nichts Besonderes. Es war einfach ein Tag. Und hier, unter griechischen Säulen, standen wir nun. Eine aristotelische Tragödie. Es war, als hätte die Erde einen tiefen Atemzug genommen… und nicht mehr ausgeatmet… und neben uns lag mein Vater – am Boden – tot… Und das verrückte war, ich hatte nur Augen für den Jungen… ich habe mich oft dafür geschämt… Welchen Begriff es dafür gibt, weiss ich nicht… vielleicht war dies der Tod im Angesicht des prallen Lebens oder der Anfang im Angesicht des Endes. Es war das Leben überhaupt… Ob der Junge von damals, je wieder gesungen hat…
 
Sie: Meine Grossmutter trug ihre Vögel im Haar. Sie trug sie im Haar, als wäre sie eine verwunschene Insel, bevölkert von bunten Papageien. Ich liebte sie.
 
Sie: Meine Grossmutter hatte ein Tea-Room am Fusse der Blüemlisalp. Dort ging die Sonne viel zu früh unter. 
 
Sie: Meine Grossmutter hat manchmal einen rosa Plastikhandschuh aufgeblasen und ihn sich an den Bauch gehalten und dabei muuhh gemacht.
 
Sie: Meine Grossmutter sprach früher eine andere Sprache und wenn sie mit 
fremden Worten zu singen begann, drückte sie liebevoll meine Hand.
 
Der Koffer
Meine letzte Erinnerung an ihn. Ich weiss nicht, warum sie sich so klar wie ein unveränderliches Foto in mir eingeprägt hat. Ich wusste ja zu diesem Zeitpunkt nicht, dass ich ihn nie wiedersehen würde. Warum also sah ich dieses Bild mit einer Klarheit vor mir, als sei es ein gemaltes Kunstwerk, gedacht für die Ewigkeit, ein Bild, das man einmal gesehen hat und nie mehr vergisst? So in etwa wie die Mona Lisa? Warum hatte ich es nicht schon längst vergessen, bevor ich wusste, dass ich ihn nie wiedersehen würde? Dieses Bild… Ich betrachte es von aussen. Noch habe ich keine Empfindung dazu. Es ist eben ein Gemälde. Statisch. 
Ich stehe da, mit meinem Koffer in der Hand. Ich trage einen Koffer und das ist die Erinnerung. Ich stehe auf, während ich darüber nachdenke. Ich laufe rum. In meiner Wohnung. Ich kann kein weiteres Gefühl an dieses Bild heften, es füllen. Dieses Gemälde beschriften. Ihm einen Titel geben. In meiner Erinnerung stehe ich einfach da, während ich ins Wohnzimmer gehe, ein paar Rechnungen wegräume, dann aufs Klo – ich wische Wassertropfen weg, dann in die Küche – die Milch muss in den Kühlschrank, den Rest lass ich stehen und wieder zurück an den Schreibtisch. Ich laufe um dieses Gemälde herum, um diese Frau, schwanger im sechsten Monat, mit einem Koffer in der Hand, in der Wüste, genaugenommen in der Sahara. Mit Sand unter den Füssen, ein flirrender, blauer Himmel, ein Gewand, dass gross genug ist, um die Wölbung zu verbergen. Und dann der Koffer. Dieser Koffer in meiner Hand. Noch bin ich nicht soweit.
 
Kleine Dinge
Wenn ich dich fragte: «Was machst du gerade?», dann sagtest du meistens: «Nichts». 
 
Ich: Nichts?
 
Du: Ja. Nichts
 
Ich: Und sonst?
 
Du: Ich rauche.
 
Ich: Ok…Und sonst?
 
Du: Ich höre Musik.
 
Ich: Ah…Und was?
 
Du: Verschiedenes.
 
Ich: Ok….
 
Du: Und ich denke nach.
 
Ich: Worüber?
 
Du: Über alles.
Ich musste mich erst daran gewöhnen, an diese deine Art. Dieses Nichtsmachen. Ich musste es erst verstehen lernen. Es ist nicht einfach nichts. Es ist deine Welt. Deine verborgene Welt. Eine verborgene Welt, in der du mittendrin sitzt. Ein Knie angezogen, ein Arm um dein Knie geschlungen. In der anderen Hand eine Zigarette. Dein Rücken gerade. Dein Blick in die Ferne. Kein träumerischer Blick, auch kein verschwommener Blick ins Leere. Dein Blick hat Klarheit. Dein Blick schaut durch Wände, mit einer Zielsicherheit, als würdest du damit Leinwände bemalen. Dieser dein Blick tut nicht einfach nichts. Er arbeitet. Um dich herum sind deine Dinge. Gegenstände, die dir etwas bedeuten. Meistens sind sie klein. Du siehst mehr als andere. Das weiss ich. Ich sehe es an deinen Augen. Denn in deinen Augen leben deine Dinge. Sie tanzen, rennen, lachen und verstecken sich. Es sind freche Dinge und oft geht eines deiner Dinge verloren. Haarbüsten z.B. ein T-Shirt, deine Brille, ein kleines Notizheft mit dringenden Angelegenheiten drin oder ein winzig kleines Portemonnaie, aber vor allem das, was du gerade dringend brauchst. In deiner Welt spielen dir deine Dinge oft einen Streich und meistens bist du in Aufruhr deswegen. Denn du bist dir immer sicher, dass dir jemand dein Ding geklaut hast. Du wirst wütend, bist entrüstet über so viel Bosheit, denn du brauchst dein Ding gerade jetzt so dringend. Deine Dinge sind beseelt. Und deshalb bewegt sich deine Welt und vielleicht musst du immer danach suchen, weil du um deine Dinge kämpfst. Heute rauchst du nicht mehr. Aber du denkst immer noch. Du denkst in Bildern, schreibst in Melodien und träumst die Wirklichkeit. Und heute kämpfst du. Du kämpfst darum, etwas zurückzubekommen von dem, was du in die Wirklichkeit träumst. Du kämpfst um deinen Platz. Du hast Ehrgeiz, sagst du. Du verachtest Leute, die nicht leidenschaftlich für ihre Sache kämpfen, sagst du. Man muss verzichten, um zu bekommen, sagst du. Aber noch immer gehen deine Dinge verloren. Auch wenn wir uns ein wenig auseinandergelebt haben in diesen Jahren, ich finde sie immer deine Dinge. Ich weiss nicht warum, aber für deine verlorenen Dinge habe ich einfach ein Gespür. Sie sind mir wichtig, denn es sind deine Dinge. Deine Dinge bist du.
 
Ibrahim
Du warst schon immer die Mutigere von uns beiden. Du ziehst los in Länder, die Frauen nicht mal im Traum alleine bereisen. Vielleicht in tausendundein Träumen, aber nicht, wenn man dann in Wirklichkeit ohne gebuchtes Zimmer, ohne bekannte Gesichter, ohne Anhaltspunkte, wie man Umgang pflegt und anständig ist, in einer wirklich fremden Fremde ankommt, um dann auf gut Glück loszuziehen, in der Hoffnung etwas zu finden. Dieses etwas, von dem wir Freundinnen auch träumen, aber nur du ziehst los, um es zu suchen. Allein. Hinterlässt deine Spuren, auf irgendeinem Berg, gehst durch duftende Täler und verborgene Schluchten bis in den heissen Süden. Du durchquerst die Welten. Du sagst, du brauchst diese Weite, um Halt zu finden.
Ich stehe am Flughafen und halte nach dir Ausschau. Du bist extra eine Tages- und Nachtreise hergefahren, um mich abzuholen, weil ich keinen Schritt in dieses Land getan hätte ohne dich. Mein Gott, wie hast du das bloss gemacht, hast du denn überhaupt keine Angst? Früher hast du mal gesagt, dass dich dunkle Dinge anziehen, Zwischenwelten reizen und Abgründe faszinieren. Mich auch und trotzdem, ich mache einen grossen Bogen drum. Du nicht.
Als du mir zuwinkst, kann ich dich kaum von den anderen Frauen, die ihre Verwandten abholen, unterscheiden. Entschlossen packst du meinen Koffer, verhandelst mit dem Taxifahrer einen Preis und fährst mich in die dunkelste Ecke dieser Stadt.
 
Du: Es ist zwar nicht chic, dafür supergünstig. Ibrahim!!!
 
Du winkst jemandem aus dem Fenster zu. Das Taxi hält vor einer engen Gasse, die sich wie ein Schlund in der Dunkelheit verliert. Weiter kommt es nicht. Die Gassen sind zu eng für ein Auto. Mit einem Wortschwall, den ich nicht verstehe, begrüsst du einen jungen Mann auf einem verbeulten Mofa. Inzwischen hast du sogar schon ihre Sprache gelernt.
 
Du: Das ist Ibrahim. Er arbeitet im Hotel. 
 
Ich bin noch ganz benommen von all den Eindrücken, den fremden Gerüchen, den Farben.
 
Du: Ibrahim bringt uns ins Hotel. Kannst du den Koffer so halten? So über dem Kopf? Du sitzt dann hinter Ibrahim und ich hinter dir. Dann kann ich dich einklemmen wie ein Schraubstock.
 
Himmel…dachte ich…
 
Ich: Also wir fahren zu dritt auf diesem kleinen Mofa?
 
Du: Mach dir keine Sorgen. So sind wir schneller und die Gassen sind abends ein wenig gefährlich. Aber Ibrahim ist hier zu Hause und kennt sich aus. Dann passiert uns nichts.
 
Ich: Ok…Du, aber sieht er noch was?
 
Du: Warum? Wegen dem Auge?
 
Ich: Ja…Ich meine eines ist ja ganz weiss und das andere schaut irgendwohin, man weiss gar nicht wohin…
 
Du lachst. Ich verstand nicht so genau, weshalb. 
 
Ich: Und? Kennst du ihn gut?
 
Du: Ibrahim? Ja, wir sind befreundet.
 
Ich: Er sieht ein wenig gefürchig aus.
 
Du: Das Auge hat er bei einem Unfall verloren, die Zähne bei einem anderen. Das ist alles. Sonst ist er wirklich nett und ich finde ihn sehr attraktiv.
 
Du findest ihn attraktiv. Ich kann beim besten Willen nichts dazu sagen. Das ist alles so weit weg von der Realität, wie ich sie kenne und von dort, woher wir komme. Das Hotel ist alles andere als chic. Das Klo ist übergelaufen, das Bett hängt durch wie eine Hängematte, die Gänge sind von zwielichtigen Gestalten bevölkert und vor unserem Fenster zielt das Megafon einer Moschee direkt in unser Zimmer. Wir treten ans Fenster, schauen dem Treiben in der Gasse zu, saugen die Düfte der Nacht ein und sind glücklich.
 
Ikarus oder wie Adonis das Fliegen lernte
Wenn ich mich beschreiben müsste? So wie ich damals war, bevor das in Griechenland passiert ist? Dann würde ich sagen, wie gut mein Vater roch. Er hatte Muskeln, definiert würde man heute sagen, nicht so comicartig ausgeprägt wie bei einem dieser bulligen Machos, deren grösster Fan ihr Spiegel ist und die sich danach selber den Bizeps küssen. Nein, die Muskeln meines Vaters waren geschmeidig, gingen ineinander über wie sanfte Hügel, eingebettet in einer schönen Landschaft und machten sportlich einen Sinn. Wenn ich mich beschreiben müsste? Dann würde ich sagen, mein Vater war schön wie Adonis und erfolgreich. Ich würde sagen, er war Olympiasieger und baute Häuser in Dubai. So nah an der Sonne, dass die Fassaden die goldene Farbe vermehrten, ganz für umsonst, als wäre sie ein Geschenk des Himmels. Wenn ich mich beschreiben müsste, so wie ich damals war, dann würde ich sagen, mein Vater besass eine ausgeklügelte Technik im Rudern. Ihm war das Rudern wichtig und er wusste, warum es das auch für mich sein sollte. Wenn ich mich beschreiben müsste, wie ich damals war, dann würde ich sagen, mein Vater machte alles richtig. Und ich würde sagen, der See war bei jedem Wetter schön. Ich würde sagen, es war ihm nicht egal, dass mir das Rudern egal war. Aber er fragte nicht und deshalb würde ich sagen, ich liebte vor allem die Wolken, die sich darin spiegelten. Als würde ich über den Himmel gleiten. Als hätte man die Welt auf den Kopf gestellt und nur ich hatte dies erkannt. Und ich würde aufrecht stehen in dieser verkehrten Welt. Das würde ich immer tun, aufrecht stehen, mit breiten Schultern, offenem Herzen und wehenden Haaren, selbst wenn sich die Welt umdrehen würde. 
 
Er fiel, ich flog…
 
Ohne Himmel
Vor mir türmten sich die Wolkenkratzer New Yorks in den Himmel. Vom Himmel gabs nur noch wenig zu sehen. Die Lichter stahlen den Sternen die Show. Wie sollte es auch anders sein in dieser grossen Stadt mit ihrem grossen neuen Namen. Mit einer Statue, die eine Frau ist. Eine Frau. War sie wirklich eine Frau? Hatte das schon mal jemand bemerkt? Ich meine, eine richtige Frau. Eine Frau, die sich nicht fragen muss, ob sie noch schön genug, cool genug ist, um zu sagen, was sie wirklich denkt, ohne zum Beispiel als Notgeile, Frustrierte, Frigide oder Schlampe abgekanzelt zu werden. Direkt oder hinter dem Rücken oder auch nur gedacht. Nein, ich meine eine richtige Frau. Nicht eine aus Gummi, ihr wisst schon wofür und auch keine Statue aus Stein, deren Brüste im Gegensatz zum Rest der Statue vom vielen Betatschen geschliffen sind und glänzen. Also, das muss mal gesagt werden. Brüste sind etwas Normales. Etwas, das relativ ausgewogen die Hälfte der Bevölkerung trägt. Warum also Herrgottnochmal dieser Hype? Vergrössern, verkleinern, Nippel erneuern, einfärben, rasieren, kaschieren, massieren, hochdrücken, zur Geltung bringen, sie benennen, mit einem richtigen Namen wohlgemerkt, sie verfluchen, kritisieren, sie verantwortlich machen für Erfolg oder Misserfolg. Und zu guter Letzt sind sie wie Schuhe, Hüte, Hosen und Kleider im Allgemeinen, einem Modetrend verpflichtet. Krass, was Brüste so alles müssen und krass, wieviel Macht sie besitzen, sofern sie im Trend sind, wenn man bedenkt, dass sie ein Organ sind wie die Leber oder die Blase oder zum Beispiel die Milz. Im Prinzip müssen sie lediglich ein Baby ernähren. Aber auch das ist hinfällig geworden und nicht notgedrungen nötig, wenn man sich das sterile und nicht von einem verruchten Leben kontaminierte Angebot an Milchpräparaten in den Regalen anschaut. Man könnte fast sagen, dass das Angebot der Brust im Prinzip ausgedient hat. Ein Auslaufmodell sozusagen. Ein Oldtimer, den man nur noch aus Passion in der Garage stehen hat und mit dem man im besten Falle angeben kann, sich schmücken kann. An dem man einfach seine Freude hat. Ein Liebhaberobjekt sozusagen. 
Ich stand also da, auf der Brücke, in New York, bei Nacht und das Leben um mich herum verschwamm zu einem unklaren Bild, als habe jemand eines dieser Nachtaquarellbilder ohne klare Übergänge in gross gemalt. Ich stand auf dieser Brücke, dem Himmel nicht nahe genug, der Boden unter den Füssen ein Fake aus Beton und neben mir ein Mann, der nicht meiner war. Ich nahm mein winziges Kind in die Hände und warf es in den East River. Mein Kind schwamm vor mir, so klein, so klein davon. 
 
1001 Nacht und 100 Kondome
Du: Ich brauche noch Kondome, aber mir ist das so peinlich. Hier kennen mich alle, selbst im hintersten Tal wissen sie, wo ich bin, mit wem ich mich unterhalte und was ich wem erzähle. Kannst du nicht bitte für mich in die Apotheke gehen?
 
Da stehe ich also in dieser Apotheke, kurz vor den Sanddünen der Sahara, umgeben von einigen nahezu verhüllten Frauen. Wenigstens trage ich ein Kopftuch und fühle mich etwas inkognito, was natürlich albern ist bei meiner Grösse. Auf den Stühlen sitzen alte Männer, die nicht schwitzen, obwohl es 45 Grad heiss ist. Ich, die ich noch nie Kondome gekauft habe, weil immer die Pille genommen und feste Freunde gehabt, stehe in der Schlange und denke irgendwie nichts, als ich endlich drankomme und hundert Kondome bestelle.
 
Du: Hundert Kondome!? Mein Gott! So peinlich! Was werden die jetzt bloss von mir denken?
 
Ich: Warum von dir? Du meinst wohl, was sie von mir denken!
 
Du: Was sie von dir denken, denken sie auch von mir! Wahrscheinlich denken sie sowieso, dass du sie für mich gekauft hast!
 
Ich: Warum denn? Ich hab’ sie ja gekauft!
 
Du: 100 Kondome…Himmel…. Was hast du dir denn dabei gedacht?
 
Ich: Nichts natürlich. Ich dachte, ihr seid verliebt und müsst aufpassen.
 
Und dann bist du trotzdem schwanger geworden. Und ich irgendwie mit dir.
 
Ich: Warum habt ihr eigentlich nicht verhütet? 
 
Du: Er hat gesagt, dass er sich ein Mädchen wünscht mit meinen Augen. Und ich habe gesagt, dass ich mir ein Mädchen wünsche mit seinen Händen.
 
Was konnte ich dazu noch sagen…
 
Das Karussell
Liebe Freundinnen, ich habe euch hier versammelt, so wie damals, als wir singend Ringelreihe tanzten. Weil die Welt sich dreht und weil wir mitdrehen und wir bereit sind, uns die Hand zu reichen. Ich habe euch hier versammelt und ihr habt mir euer Wort erteilt. Ich spreche in eurem Namen, aber ich verrate euch nicht, weil das Verraten der Wahrheit nicht gerecht wird. Es wäre auch verdammt anmassend die Wahrheit zu erzählen. Es würde voraussetzen, dass ich daran glaube, dass ich das Leben in der Hand habe, dass ich genau weiss, woher wir kommen und wohin wir gehen. Es würde voraussetzen, dass ich planen kann, dass ich voll und ganz die Verantwortung trage, für eine Geschichte, für meine oder deine. Diese Macht besitze ich nicht. Ich habe euch hier versammelt, weil die Wahrheit eine Lüge ist und alles, was ich tun kann, für euch, für mich, ist von euch zu erzählen, ohne klaren Anfang und ohne sinnvolle Dramaturgie, ohne Höhepunkt, ohne ein Ende mit Fazit. Ich habe euch hier versammelt, um die Wahrheit zu sagen. Die Wahrheit, so wie ich sie verstehe. Wie ein Karussell, das sich dreht und dreht und immer weiterdreht. So stelle ich mir die Wahrheit vor. Und je nach Wetter, Musik und Lage verändert sich das Bild. Und manchmal steigt jemand ein oder aus und mit jedem Drehen kommen neue Farben, neue Gerüche dazu und verändern das Bild. Und manchmal ist es einsam auf dem bunten Karussell und manchmal laut und schrill. Und manchmal lachen wir und rufen uns zu, so wie damals, als wir Kinder waren. 
Liebe Freundinnen, ich habe euch hier versammelt, um das Leben zu feiern und um die Wahrheit von einem Karussell aus zu betrachten. Um zu staunen, ohne zu urteilen. Ein Karussell, das sich dreht und dreht und immer schneller dreht, bis du ich wirst und ich du. Bis wir verschmelzen im Drehen und Drehen. Das denke ich, liebe Freundinnen, kommt der Wahrheit am nächsten.